Von Jürgen Stark
Ein altbekanntes Phänomen trifft auf eine verwirrte Moderne. Diese Mühe benötigt aber Energie, denn Überlebens-Kunst ist anstrengend. Sicher ist, dass unsere Gesellschaft in einen Umbruch geschubst wurde, der immer mehr Verlierer denn Gewinner produziert. Tabula rasa. Doch ausgerechnet aus dem weiten Feld der Kultur kommen auch interessante Signale der Hoffnung – für kommende Zeiten. Oder wie Udo Lindenberg einst sang: „Hinter dem Horizont geht’s weiter“, eine immer noch gut klingende Popballade. Popkultur reflektiert gesellschaftliche Zustände, künstlerische Avantgarde zeigt die Welt von Morgen.
Entsetztes Establishment
Im Bereich szenischer Trends kann das ganz lustig und unterhaltsam sein. Man denke nur an randalierenden Punk, Ende der 1970er Jahre. Das Establishment zeigte sich entsetzt, die Polizei wurde gerufen – und schon Anfang der 1980er Jahre bediente einen am Bankschalter die freundliche Kundenberaterin von der Sparkasse mit blau gefärbtem Irokesenschnitt und Tattoo am Oberarm. Der Underground von heute ist der Mainstream von morgen. Deshalb, aufgepasst, da tut sich was.
In der Erinnerung ist uns allen noch das legendäre „Loft“ von Andy Warhol in New York. Eine Kulturexplosion aus dem schmuddeligen Hinterhof, wo artifizielle Alltags- und Werbeikonografie via Warhols Gemälde- und Plakatkunst berühmt wurde. Während nebenan die Band „Velvet Underground“ – mit der deutschen Sängerin Nico und dem später weltberühmten Lou Reed – für den Eintrag ins Musikgeschichtsbuch probten. Für die Popkultur bedeutete dieses künstlerisch kompakte Signal Wandel und Umbruch. Ausbruch aus dem Alten. Erinnerungen an die Zukunft?
Düsteres Ende
Der jetzige Umbruch ist weitaus größer und wird von außen angeschoben. Altvertraute Kleinteiligkeit geht in der Gesellschaft verloren, während alles kriselt. Vom Pubsterben ist in England die Rede, während die Franzosen den Verlust zahlloser Bistros beklagen. In Deutschland sterben die Landgasthöfe und Eckkneipen, während bei Night Clubbing in Discos und Live-Konzerten in Musikklubs ständig vom düsteren Ende die Rede ist.
Formiert sich unsere gesamte Freizeit- und Alltagskultur komplett neu? Disco today: Von leeren Tanzflächen und ebenso leeren Kassen ist die Rede. In der deutschen Club-Szene. Ein massenhaftes Aussterben der Party-Betriebe wird befürchtet. Das „Watergate“ ist eine Kreuzberger Club-Institution. Ende des Jahres ist Schluss, nach 22 Jahren. Das wurde bundesweit zur Schlagzeile, weil weitere Läden folgen werden, was eine Umfrage der Berliner Clubcommission bekannt machte. Fast die Hälfte der befragten Betriebe (46 Prozent) geben darin an, dass eine Schließung alsbald folgen könnte.
Heftiger Einschnitt
Diese offizielle Interessenvertretung der Nachtbetriebe Berlins warnt ausdrücklich vorm bundesweiten Clubsterben. Denn die Krise wird auch vom Hamburger Clubkombinat bestätigt, wo die Clubs der Hansestadt über einen Gewinneinbruch von 20 Prozent im laufenden Jahr klagten. Über ganz Deutschland wabert ein Grauschleier. Der Bundesverband der Musikspielstätten, die LiveKomm, gab zu Protokoll, dass laut Befragung der eigenen Klientel annähernd zwei Drittel befragter Clubs eine wirtschaftlich immer schlechtere Lage erkennt. Etwa ein Sechstel denke an eine Schließung in den kommenden zwölf Monaten sagt Marcel Weber gegenüber der Online-Ausgabe von ntv (Wie Deutschlands Clubs um Party-Nachwuchs ringen).
Laut Clubcommissions-Vorstand gibt es eine dramatische Verkettung von Problemen: „Die Corona-Pandemie mit ihren mehrjährigen Club-Schließungen war ein heftiger Einschnitt. Fast unmittelbar nach den Wiedereröffnungen begann der russische Angriffskrieg in der Ukraine, gefolgt von der Energiekrise und einer bis heute hohen Inflation.“ Durch die steigenden Preise sei Feiern in der Prioritätenliste bei vielen nach unten gewandert. „Die Leute müssen schauen, wofür sie ihr Geld ausgeben.“ (ntv, ebenda)
Lust auf Tanz und Musik
Doch längst macht Not schon wieder erfinderisch. Das Geld zum Ausgehen wird knapp, der Wunsch, die Lust auf Tanz und Musik ist keinesfalls geringer, es soll authentisch sein und günstig. Echt soll es sein, und für jeden zu haben. Das war in der New Yorker Bronx in den späten 1980er Jahren ähnlich, als vor den Abbruchhäusern brennende Ölfasser die Entstehung vom Scratchen und Breakdance, von Hip Hop und Rap beleuchteten – inmitten von hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Verwahrlosung.
Kostensteigerungen durch hohe Eintritts- und Getränkepreise beim Publikum zu kompensieren funktioniert nun nicht mehr, wenn alle leere Taschen haben. Doch schon zu Corona-Zeiten wurden kreative Alternativen geschaffen. Partys wurden eben nicht mehr in Nachtclubs und Diskotheken gefeiert, sondern als illegale Raves in Hinterhöfen, Kellern, Parks oder auf anderen freien Flächen oder in leeren Gebäuden „free“ veranstaltet. Dieser Trend setzt sich nun offenbar beschleunigt fort.
Bürokratischer Ballast
Von Hürden senken und Experimente wagen ist nun selbst bei den kommerziellen Veranstaltern die Rede. Wenn nun aber sogar Clubs fordern, der Staat möge bitte schnellstens bürokratischen Ballast beseitigen, dann wird hier erneut der Blick auf politische Misswirtschaft von Merkel bis zur Ampel gelenkt. Mehr Discos wagen, möchte man von daher der nächsten Bundesregierung schon mal zurufen. Szenekenner und Insider sprechen von wesentlich mehr Zwischennutzungen unter dem offiziellen Radar – zum Beispiel in alte Bürohäusern, die vorm Abriss stehen – und nun Partygäste begrüßen. Eintritt frei.
Die Szene reorganisiert sich. Angekündigt werden die Danceparties meist in Telegram-Gruppen oder via WhatsApp. Ob legal oder illegal scheint nebensächlich zu sein. Und während in der Musikszene seit und Dank Corona viele Musikklubs auch für immer ihre Pforten schlossen, weil auch hier die Kosten nicht mehr durch Einnahmen gedeckt wurden, kam es auch hier zu einer Ventilfunktion. Das Spiel für die Künstler ist mit dem herumgereichten Hut zwar risikoreich, aber offenbar inzwischen lohnenswerter geworden – denn immer neue Läden öffnen sich für Bands neben Küche und Zapfhahn und die Hüte werden voller.
Sehnsucht nach Abenteuer
So war es für Offenburger überraschend, dass unlängst im altgedienten „Andres“ plötzlich mit dem Buddy & Doc Trio Livemusik neben dem Steak auf den Teller kam. Ein Konzept, welches den einst kriselnden „Durbacher Hof“ in die sichere Spur geführt hat. Von privaten Live-Konzerten auf ausreichend großen Grundstücken hört man auch immer mal wieder. Es ist nicht nur Flucht vor Kosten, Abgaben und Gebühren der kommerziellen Veranstalter, sondern auch etwas Sehnsucht nach Abenteuer und neuer Authentizität und Abkehr von konventionellem Betrieb. Ein Hauch vom Pubrock der 1970er Jahre ist auch dabei. Frei nach dem Motto: Neue Locations, neues Glück, neue Musik.
Im völligen Kontrast zur kleinteiligen Szenerie dagegen die Festivalszene, denn die brummt allerorten, auch wenn es hier und da wegen knapper Haushaltskassen zu leichten Rückgängen bei den Besucherzahlen kommen mag. Das inzwischen weltberühmte Wacken Open Air ist seit Jahren so erfolgreich, dass oben im norddeutschen Dorf nebenher der gute alte „Landgasthof Zur Post“ von den Wacken-Machern vor dem Exitus gerettet werden konnte. Der ist ja nun ein Musikklub. Aber gerettet ist gerettet. Jetzt dürfen wir alle gespannt sein, wo im kommenden Jahr bei uns in der Ortenau die Musik spielt. Dance im Eiscafe? Rock’n’Roll in der Dönerbude? Oder Raves in den leeren Burda-Gebäuden von Offenburg? Ein schönes Motto für das kommende Jahr: Nichts ist unmöglich. Guten Rutsch!
Siehe auch:
Jürgen Stark´s Kulturkolumne #1: Brücken über´m wilden Wasser
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